Hermann Broch und die Ökonomie - Literaturhaus Wien (2024)

„Mikroebene: Unternehmensführung und Haushalt des freien Schriftstellers“ ist der erste Abschnitt übertitelt, der alltagspraktische und existenzielle Aspekte aus Brochs Leben beleuchtet. Franz Heißenberger rekonstruiert die Geschichte der Teesdorfer Spinnfabrik als Teil der Industriegeschichte (Nieder-)Österreichs und zeigt Brochs ehrliches Engagement und soziales Verantwortungsgefühl für die am Höhepunkt etwa 800 Arbeiter und Angestellten der Fabrik. In dieser individuell gelebten Lauterkeit als Unternehmer wurzelt vielleicht eines der prinzipiellen Missverständnisse, das Brochs ökonomischem Denken zugrunde liegt: Der fürsorgende Unternehmer-Patriarch (der Gründerzeit) ist ein Mythos, er war nie ein systemisch vorgesehener Akteur kapitalistischen Wirtschaftens, sondern entsprang immer einer individuell-privaten Entscheidung. Ein anderes Missverständnis, so könnte man hinzufügen, ist die Überschätzung des verlorenen christlichen Zentralwertes, doch als er uneingeschränkt Europa beherrschte, herrschte auch der Massenwahn von Inquisition und Hexenverfolgung.

Dass Broch die Fabrik 1927 veräußerte – gerade noch vor dem großen Clash von 1929 – hat er selbst im Rückblick als „kommerziellen Geniestreich“ (S. 39) interpretiert, war aber wohl doch eher ein glücklicher Zufall, denn der entscheidende Antrieb dafür war Brochs Wunsch nach einer radikalen Neuorientierung seines Lebens. Sein literarisches Werk, vor allem die „Schlafwandler“-Trilogie und die Theaterstücke, als „Erinnerungsort der 1993 geschlossenen Teesdorfer Spinnfabrik“ (S. 48) zu sehen, ist ein origineller Gedanke. Die schon vom Vater der Broch-Forschung Paul Michael Lützeler herausgearbeiteten Parallelen zwischen Brochs Figuren und realen Personen sind immer wieder anregend, werden aber letztlich der Komplexität literarischer Verarbeitungen realer Vorlagen nicht so ganz gerecht.

Sarah McGaughey beschäftigt sich mit den „Haushaltssorgen“ Brochs und den Konflikten, die sich innerfamiliär vor und nach dem Verkauf der Fabrik ergaben. Jürgen Heizmann fragt unter dem Titel „Exil und Ökonomie“ danach, wie sich diese „Haushaltssorgen“ unter den Bedingungen des Exils fortsetzten und zuspitzten und bettet diese biografischen Realien in einen größeren Kontext ein. Das beginnt mit dem Widerspruch, dass die kapitalismuskritische Moderne letztendlich via „öffentliche[r] Subventionen oder Patronage“ ihr ökonomisches Überleben der „Kapitalakkumulation der vorangehenden Generation(en)“ (S. 73) verdankt. Auch Brochs Einstieg in die Existenz als freier Autor funktionierte nur, „weil er Rentier war“ (S. 74). Trotzdem sind ihm Marketingüberlegungen als Autor von Anfang an nicht fremd, und sie werden immer wichtiger, da sich der Erlös des Fabrikverkaufs rasch aufbraucht. Mit der Überfahrt in die USA verliert Broch dann auch das symbolische Kapital als einst erfolgreicher Unternehmer und ‚Szenefigur‘ zumindest in einem kleinen intellektuellen Zirkel Wiens. In der „Neuen Welt“ ist er als weitgehend unbekannter Autor auf Unterstützung in Form von Stipendien, privaten Zuwendungen und Vorschüssen angewiesen. Den ökonomischen Abstieg zeigt die lange Kette provisorischer und oft reichlich schäbiger Wohnverhältnisse. Auf dem kapitalistischen Markt nicht mehr mitzuspielen, auch nicht auf dem der Literatur, bezeichnet Broch in einem Brief 1948 als seinen „moralischen Luxus“ (S. 85). Doch auch das, wie Heizmann klar macht, war wohl keine freie Entscheidung, sondern der Preis des Exils.

Der zweite große Abschnitt des Bandes ist der „Makroebene: Thesen zur politischen Ökonomie“ gewidmet. Paul Michael Lützeler untersucht u. a. zwei Essays, die Broch 1919 und 1948 zu Fragen der politischen Ökonomie publizierte. Zumindest der erste erschien keineswegs an „prominenter Stelle“ (S. 92), sondern in der kurzlebigen Wiener Zeitschrift mit minimaler Auflage „Der Friede“. Broch argumentiert hier gegen das sowjetische System mit einer Art Ständestaat-Modell, in dem Arbeiter, Industrielle, Unternehmer, aber auch Finanziers und der Handel in einem „demokratischen Rätesystem“ zusammenarbeiten sollen. Der zweite Aufsatz erschien in Thomas Manns Buch-Projekt „The City of Man“, publiziert im November 1940, und setzt Roosevelts New Deal als den bedeutendsten Versuch, „der Demokratie eine neue wirtschaftliche Formulierung zu geben“ (S. 100). „Wie Die Schlafwandler eine Kritik am totalen ökonomischen Liberalismus implizieren, so enthält der Roman Die Verzauberung von 1935 eine Kritik am totalitären Staat.“ So lautet Lützelers Resümee, was für weiterführende Untersuchungen die Frage offen lässt, ob diese Kritik auch gelungen ist bzw. vor dem Hintergrund des Broch’schen Weltbildes gelingen kann.

Michael Kessler liest Brochs Ablehnung der Allmacht des Ökonomischen – unabhängig vom politischen System – parallel mit kritischen Reaktionen auf die Finanzkrise von 2008. Eher zwiespältig bewertet Martin Klebes Brochs Suche nach Rezepten für die Probleme der Moderne. Zwar sei „Brochs Bestehen auf der Notwendigkeit objektiver Wissenschaftlichkeit bei dem Versuch der Bekämpfung […] soziale[r] Pathologien unverkennbar“, doch der „Fortschritt wissenschaftlicher Forschung“ bedürfe für Broch doch „der metaphysischen und ethischen Anreicherung durch die Philosophie“. Doren Wohlleben untersucht in ihrem Beitrag hochschulpolitische Positionen von Broch – mit der überraschenden Analogie von Wissenschafts- und Wirtschaftspolitik – und Karl Jaspers, wobei beide von einander nicht allzu überzeugt waren.

Der dritte große Abschnitt führt zum „Ökonomischen Diskurs im literarischen Werk“ selbst, das freilich auch in den vorangegangen Beiträgen immer schon mit eingespielt worden ist. Sun-Young Kim analysiert das Geschäftsgebaren der beiden unterschiedlichen Geschäftsmänner Esch und Huguenau in Teil 2 (1903) und 3 (1918) der Schlafwandler-Trilogie, Bernhard Fetz untersucht „Geld und Gold“ in Brochs Fragment gelbiebenem Roman Die Verzauberung und zeigt, wie Broch Facetten der Zeithistorie in die soziale Ordnung des Bergdorfes einschreibt. Dass das Buch, auch abgesehen von den „schwer zu ertragenden Definitionen des „Weiblichen und Männlichen“, aktuellen Relektüren nur bedingt standhält, macht Barbara Frischmuth in ihrem Beitrag im abschließenden Teil deutlich: „Selbst das, was die Guten so sagen“, nähere „sich manchmal dem, wogegen sie in Wirklichkeit sind, gelinde gesagt, begriffsmäßig“ verhängnisvoll an.

In diesem Sinne ist Christoph Zellers Untersuchung zu Brochs Konzept des Werte-Zerfalls vielleicht am ergiebigsten. „Wer Zersplitterung und Zerrissenheit diagnostiziert, geht von Einheit und Zusammenhang aus. Werte bürgen demnach für Einheit, Zersplitterung bedeutet Verlust.“ (S. 198) Und das führe bei Broch zu einer problematischen Vorstellung von Erkenntnis, die „religiös begründet und ethisch motiviert“ sei (S. 201). „Der eingeweihte Gelehrte“ – oder Dichter – „legt einen verborgenen Sinn frei, der dem Nachweis des Zusammenhangs aller Dinge dient.“ (S. 201) „Dem diagnostizierten Verlust der Werte“ begegnet Broch also „mit der Bildung einer neuen Gemeinschaft nach dem Vorbild der christlichen Kirche, als diese noch, wie der Schriftsteller meinte, für eine geistige Einheit stand.“ In dieser deutlich skeptischen Formulierung verbirgt sich doch einiges an Unbehagen, das die Auseinandersetzung mit Hermann Brochs Werk durchaus anregen kann und soll.

Hermann Broch und die Ökonomie - Literaturhaus Wien (2024)
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