Drittes Reich: Reinhard Heydrich, Anatomie eines Massenmörders - WELT (2024)

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Es ist erstaunlich, aber wahr: Trotz einer großen Fülle auch von biografischen Arbeiten zum nationalsozialistischen Führungskreis gab es bisher keine wissenschaftlich fundierte Lebensdarstellung von Reinhard Heydrich, des engsten Mitarbeiters Heinrich Himmlers. Peter Longerichs großartige Himmler-Biografie , von Frank Bajohr zu Recht als "Standardwerk über die SS" bezeichnet, hat das Fehlen einer Studie zu Heydrich besonders deutlich werden lassen. Jetzt hat Robert Gerwarth eine Arbeit vorgelegt, die diese zentrale Lücke schließt.

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Gerwarth bleibt längst nicht bei einer reinen Lebensbeschreibung stehen. Er nutzt die Möglichkeiten der modernen Biografik und verknüpft Lebens-, Milieu- und Strukturgeschichte. Es gelingt ihm überzeugend, Leben und Taten Heydrichs nachzuzeichnen und dies mit "kalter Empathie" zu tun.

"Heydrichs Handlungen, seine Ausdrucksweise und sein Verhalten sprechen ohnehin für sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideologischen Sendung überzeugten genozidalen Massenmörder aus der Mitte der deutschen Gesellschaft." Um zu diesem überzeugenden Schluss zu kommen, hat Gerwarth alle erreichbaren Selbstzeugnisse Heydrichs und eine Vielzahl von Quellen zu Heydrichs verbrecherischer Tätigkeit nach 1933 zusammengetragen.

Die Arbeit widerlegt viele Legenden und Stereotypen über Heydrich. Gestützt auf die Studie von Shlomo Aronson von 1967, ergänzt durch eigene Recherchen, räumt Gerwarth mit sämtlichen Gerüchten über Heydrichs angebliche jüdische Abstammung auf, die ihn für Himmler und Hitler erpressbar gemacht hätte. Nicht nur bei renommierten Historikern wie Hugh-Trevor Roper, Joachim C. Fest oder Karl Dietrich Bracher wurde diese Theorie weitergegeben, sondern auch noch in neueren Studien über Heydrich, die dann Titel wie "Das Gesicht des Bösen" tragen.

Tatsächlich zeigt die Studie eine fast freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen Himmler und Heydrich, deren politische Ziele klar und eindeutig von Hitler vorgegeben wurden. Für Millionen von Menschen in Europa sollte diese Kooperation der nationalsozialistischen Führungsspitze todbringend sein.

"Rauschhafte Erfahrung"

Der ehemalige Marineoffizier Reinhard Heydrich wurde 1931 wegen eines gebrochenen Heiratsversprechens unehrenhaft aus der Reichsmarine entlassen und musste sich beruflich neu orientieren. Durch seine neue Verlobte, Lina von Osten, die übereinstimmend als glühende Nationalsozialistin geschildert wird, geriet Heydrich in Kontakt mit der radikal antisemitischen und antidemokratischen politischen "Bewegung" des Nationalsozialismus. Damit setzte, wie Gerwarth schlüssig herausarbeitet, seine politische Sozialisation und Radikalisierung erst zu dieser Zeit ein.

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Sie stützte sich weniger auf die Erlebnisse in der Zeit davor als auf die neue "rauschhafte Erfahrung des rasanten Aufstiegs nach Hitlers Regierungsübernahme". Himmler und Heydrich schufen, von Bayern ausgehend, zwischen 1933 und 1936 mit der Unterstützung Hitlers einen zentralen "Unterdrückungsapparat neuen Typs, an dessen Spitze radikale NS-Ideologen standen" und der formal im Juni 1936 mit der Ernennung Himmlers zum "Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei" zentralisiert nach außen in Erscheinung trat. Dabei gelang es Heydrich vielfach, zu improvisieren und den Machtbereich der SS zu erweitern.

Kein ideologieferner Karrierist

Dieser neue Sicherheitsapparat sollte alle echten oder vermeintlichen "Feinde" des Nationalsozialismus bereits präventiv verfolgen und nicht erst dann, wenn sie dem Staat gefährlich werden konnten. Dabei ist auffällig, dass Heydrich zur Kompetenz- und damit zur Machterweiterung mehrfach Szenarien entwarf, die angebliche Bedrohungen durch ideologische Gegner ausmalten und gleichzeitig deutlich machten, dass dieser "Bedrohung" nur durch den kombinierten SS- und Polizeiapparat entgegengetreten werden könne.

So legitimierte Heydrich nicht immer nur die Tätigkeit seines Repressionssystems, sondern auch dessen permanente Ausweitung. Seit 1936 war Heydrich "Chef der Sicherheitspolizei und des SD" und vereinte damit sämtliche Kompetenzen von Kriminalpolizei und Geheimer Staatspolizei.

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Gründlich räumt Gerwarth mit dem Vorurteil auf, Heydrich sei nur ein effizienter und ideologieferner Karrierist gewesen. Er zeichnet sehr sorgfältig die Entwicklung des Heydrichschen Antisemitismus nach und macht deutlich, wie dieser von Heydrich in politisch-polizeiliche Maßnahmen umgesetzt wurde, zuerst in eine Politik der Zwangsauswanderung, später in den Massenmord an den Juden Europas.

"Ein historisch beispielloses Maß an Gewalt"

Der deutsche Überfall auf Polen und die Errichtung des "Reichssicherheitshauptamtes" im September 1939 führten zu neuen Kompetenzen für den "zunehmend mit der SS verzahnten politischen Polizeiapparat". Die "Utopie vom Lebensraum im Osten, wie er Hitler, Himmler und Heydrich vorschwebte", sei im Herbst 1939 zwar noch "verschwommen und konturlos gewesen", doch seine Verwirklichung würde "ein historisch beispielloses Maß an Gewalt erfordern".

Eine zu Recht zentrale Stelle in der Biografie Heydrichs nimmt dessen Anteil an der Planung und Durchführung des Massenmords an den Juden Europas und an den Entscheidungsprozessen dazu im Sommer und Herbst 1941 ein. Gerwarth macht deutlich, welche Entwicklungen zu den Erschießungsaktionen der "Einsatzgruppen des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD" ab Juli 1941 führten, wie zuerst jüdische Männer, später Frauen und Kinder in das Mordprogramm einbezogen wurden und bis Jahresende 1941 rund 800.000 Menschen ermordet wurden:

"Mit der konsequenten und vollkommenen Eliminierung der sowjetischen Juden würde sich die SS-Führung Hitler für eine gewichtige Rolle bei der Umsetzung des sehr viel umfassenderen Nachkriegsprojekts der ‚Germanisierung des Ostens’ empfehlen." Hier ist der mörderische Kontext des Rassen- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion angesprochen, der nach den Schätzungen der Nationalsozialisten zu Beginn des Krieges "rund 30 Millionen slawischer Zivilisten das Leben kosten würde".

Im Kapitel "Schicksalhafte Entscheidungen" analysiert Gerwarth sehr präzise Hitlers, Himmlers und Heydrichs Handlungen im Sommer und Herbst 1941, die zur Deportation der Juden aus Deutschland, Österreich und der besetzten Tschechoslowakei und später zur Ausweitung des Mordprogramms führten. Noch Ende Juli 1941 habe Hitler die Deportation der deutschen Juden auf die Zeit nach dem erwarteten triumphalen Sieg über die Sowjetunion verschieben wollen, vor dem Hintergrund der militärischen Entwicklung im Spätherbst 1941 und des erwarteten Kriegseintritts der USA aber seine Meinung entscheidend geändert.

Gegen die "jüdische Weltverschwörung"

"Ein Kriegseintritt der USA würde bedeuten, dass sich Deutschland nicht nur im Krieg gegen den ‚jüdischen Bolschewismus’, verkörpert durch die Sowjetunion, befand, sondern in einem Kampf gegen eine allumfassende ‚jüdische Weltverschwörung’, der es gelungen war, Kommunismus und Kapitalismus in einer Koalition gegen die ‚arische Rasse’ zu verbünden." Dieses paranoide Denken verschärfte die Entrechtung und Verfolgung der Juden im deutschen Machtbereich immer weiter.

Im Herbst 1941 wurden nicht nur unterschiedlichste Mordtechniken entwickelt und erprobt, sondern auch die Deportationen aus Deutschland, Österreich und der besetzten Tschechoslowakei vorbereitet. Im Zusammenhang damit stand auch die Ernennung Heydrichs zum "Stellvertretenden Reichsprotektor für Böhmen und Mähren" im September 1941.

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Heydrich war damit auf dem Höhepunkt seiner Macht: SS-Obergruppenführer und General der Polizei, Chef der Sicherheitspolizei und des SD sowie Chef des deutschen Besatzungsregimes in Prag. Seine "Nahziele" hier waren "die Zerschlagung des tschechischen Widerstands, die Stabilisierung der Kriegswirtschaft im Protektorat und die Reorganisierung des Besatzungssystem", das "Endziel" die "Germanisierung" der besetzten tschechischen Gebiete.

Zentrale Stellung im Terrorapparat

Gerwarth macht darauf aufmerksam, dass es keinerlei Hinweise auf Spannungen zwischen Himmler und Heydrich nach dessen Beförderung gab, über die nach 1945 spekuliert wurde. Es gab im Gegenteil im Frühjahr 1942 eine Vielzahl gemeinsamer Besprechungen von Hitler mit Himmler und Heydrich. Auch die Koordination der Mordaktionen auf der "Wannsee-Konferenz" vom 20. Januar 1942 festigte noch einmal Heydrichs zentrale Stellung im Terrorapparat des nationalsozialistischen Staates.

Am Morgen des 27. Mai 1942 verübten drei tschechische Widerstandskämpfer , die vom britischen Geheimdienst SOE unterstützt wurden, ein Attentat auf Heydrich, der in Prag im offenen Wagen zum Hradschin fuhr. An den Folgen des Anschlags starb Heydrich am Morgen des 4. Juni 1942. Hitler ordnete eine beispiellose Repressionswelle an und befahl persönlich die Zerstörung des Dorfes Lidice. 172 Männer wurden erschossen, die Frauen ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, die Kinder verschleppt oder ermordet. Lidice entwickelte sich schon kurz darauf zur Chiffre für die Brutalität nationalsozialistischer Gewaltverbrechen.

Ende von Mutmaßungen und Gerüchten

Nach einem Staatsakt mit Reden Hitlers und Himmlers auf der Prager Burg wurde Heydrich auf dem Berliner Invalidenfriedhof beigesetzt, wo er heute noch in einem ungekennzeichneten Grab liegt. Gerwarth hält in seinem Fazit fest, "dass Heydrich als zentraler Vollstrecker der nationalsozialistischen Terrorpolitik bis zu seinem Tod 1942 an allen wesentlichen Entscheidungen beteiligt war, die zum Ausbau des SS-Unterdrückungsapparats im Deutschen Reich und zur Vernichtung der europäischen Juden beitrugen. Heydrichs zentrale Rolle bei der Umsetzung der Politikvorgaben Hitlers und Himmlers machten ihn zu einer Schlüsselfigur des Dritten Reiches und seiner mörderischen Verfolgungspolitik."

Genau dies hat Gerwarth in beeindruckender Form nachgezeichnet. Für jeden, der begreifen will, wie die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen geplant, vorbereitet und durchgeführt worden sind, ist diese Biografie unverzichtbar. Der Weiterexistenz von Mutmaßungen, Spekulationen und Gerüchten über Heydrich hat Robert Gerwarth die Grundlage entzogen.

Drittes Reich: Reinhard Heydrich, Anatomie eines Massenmörders - WELT (2024)
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Author: Errol Quitzon

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